Die Rezeption des Alpenraumes schwankt – wie bei allen Landschaften der Extreme – in der Moderne zwischen zwei engverwobenen Polen, dem Mythos der Naturgewalt und der Reinheit der Natur. Was vorher für eine unwirtliche, von grobschlächtigen Bauern und gefährlichen Drachen bewohnte Wildnis gehalten wurde, begannen Maler, Reisende und Literaten als „Traumlandschaft“ zu schildern.
Ein bekannter Genfer Naturforscher, Horace-Bénédict de Saussure, verwob im späten 18. Jahrhundert in seinen Reisebeschreibungenwissenschaftliche Erkundung und ästhetisches Empfinden. Mit den Alpenreisen seines Zeitgenossen Goethe wurde das Gebirge auch im Norddeutschen erstmals als Phänomen wahrgenommen. E. T. Compton, der Alpenmaler, erfindet Ende des 19. Jahrhunderts die Bergmalerei als Sujet, die das Gebirge nicht zur Kulisse verwendet, sondern den Berg als „Persönlichkeit“ darzustellen versucht. Als Symbol der Mystifizierung der Alpen in ihrer „Reinheit und Erhabenheit“ von der Romantik bis ins 21. Jahrhundert wird das Alpenglühen – der Widerschein von Morgen- und Abendröte – in Bild und Literatur vielfach dargestellt.
Der Bergtourismus einer zunehmend bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts stellt die Alpen auch als Herausforderung an das Individuum dar, und der „Sieg am Berg“ wird zur Inszenierung, an der der Mensch sich bewähren kann, und Gott näher kommt. DasGipfelkreuz symbolisiert dieses Spannungsfeld zwischen Ehrfurcht und Siegeswille. Darin ändert sich auch die Rezeption des Alpenbewohners, für den das zum täglichen Brot gehört. Gerade die früher als „Alpendemokratie“ verklärte Schweiz und das „freie Land Tirol“ zehren noch heute vom Alpenmythos der frühen Romantik, auch wenn etwa Max Frisch oder Paul Flora in ihren Werken dagegen ankämpften. In Frankreich und Italien fehlt aber die kulturelle Eigenständigkeit, hier bleiben die Alpenprovinzen bis heute in kultureller Randlage. Das moderne Slowenien in seiner Ablösung vom Balkan greift diese Mythen aber auf und integriert die Alpen in seine Identität als „Land der Vielfalt“.
Der erste Weltkrieg macht weite Bereiche der Ostalpen zur Alpenfront, aber die Verheerungen des zweiten Krieges lassen den Alpenraum relativ geschont. Sowohl durch die mythische Verklärung des Alpenbewohners als Kämpfer gegen Natur und Feind der Kriegs- und Zwischenkriegsjahrzehnte, von „Berge in Flammen“ über den „Bau der Glocknerstraße“ bis zur „Alpenfestung“, wie auch die in den Nachkriegsjahren im Vergleich zum restlichen Europa relativ intakte Wirtschaftslage lassen den Alpenraum vom ärmlichen und rückständigen „Entwicklungsraum“ der Aufklärung zum Inbegriff der „heilen Welt“ werden (dargestellt etwa im Heimatfilm).
Dieser Mythenkomplex hält ungebrochen bis heute an. Die Berge als Verkehrshindernis sind wohlerschlossen, als Kulturraum in ein gemeinsames Europa eingebunden, als Tourismusdestination frei verfügbar, und die Umweltschutzbewegung entdeckt den Alpenraum als „schützenswertes Allgemeingut“. Als neue Komponente tritt aber ein Überlegenheitsgefühl des modernen Menschen hinzu, in dem die spezifischen Unbilden einer montanen Umwelt als zu reparierendes Hindernis im reibungslosen Funktionieren von Zivilisation beurteilt wird.
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